Geschichte

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Bahn der Rekorde

Seit 1885 verbindet die Marzilibahn das Marziliquartier an der Aare mit dem höhergelegenen Zentrum Berns. Sie ist eine Bahn der Rekorde. Seinerzeit war sie der erste Verkehrsbetrieb der Stadt, denn Versuche mit grossen Kutschen («Pferdeomnibussen») in den 1870er Jahren waren glücklos geblieben, und das erste Tram fuhr erst 1890 durch die Gassen Berns. Heute ist die Marzilibahn die kürzeste öffentliche Standseilbahn der Schweiz und die zweitkürzeste in Europa: Sie bewältigt 32 Meter Höhenunterschied auf einer 105 Meter langen Strecke. (Kürzer ist, mit 66 Metern, nur die Uspinjača, die Standseilbahn in Zagreb von 1890.) Und weil eine Fahrt mit der Marzilibahn nur eine gute Minute dauert, ist sie vielleicht auch der Verkehrsbetrieb mit dem dichtesten Fahrplan überhaupt.

Gravur der alten Drahtseilbahn mit Gleisen, die zu einem Gebäude hinaufführen. In der Nähe gehen ein paar Menschen spazieren, umgeben von Bäumen. Auf dem Dach der Talstation die Aufschrift «Aarziele».Bahn der Rekorde

«Ein Stück Zukunft»

Wozu braucht eine Stadt eine derart kleine Bahn? Es gibt Skepsis, als der Bund im Dezember 1884 der Aktiengesellschaft «Drahtseilbahn Marzili – Stadt Bern» die Konzession erteilen soll. Schon damals ist der Fussweg, der vom Marzili hinauf zur Bundesterrasse führt, schweisstreibend steil. Aber man werde die Bahn nicht bewilligen, um lediglich «einigen Faulenzern» das Leben bequemer zu machen, heisst es im Parlament. Vielmehr gehe es um «ein Stück Zukunft der Stadt Bern»: Die Bahn soll die künftige Badeanstalt an der Aare erschliessen, die die Stadt damals plant. Zudem steht ein nationaler Anlass vor der Tür: Die Marzilibahn soll betriebsbereit sein, wenn das Eidgenössische Schützenfest für Grossandrang sorgt. März 1885 bis Juli 1885 – auch die vier Monate Bauzeit sind rekordverdächtig.

Bild: «Ein Stück Zukunft»

Zeit des Booms

Das späte 19. Jahrhundert ist in der Schweiz eine Zeit des industriellen Aufbruchs und der Begeisterung für den technischen Fortschritt. 1871 wird an der Rigi Europas erste Bergbahn mit Zahnradantrieb eröffnet, vier Jahre später folgt eine zweite an der Ostseite des Bergs. Zugleich boomt der Bau von Standseilbahnen, bei denen die Wagen mit Seilzügen über steile Schienenstrecken befördert werden. Die Marzilibahn ist die fünfte solche Anlage im Land. Die erste geht 1877 zwischen Lausanne und Ouchy in Betrieb, danach folgen die Bahn zum Hotel Giessbach am Brienzersee (1879), jene zwischen Territet bei Montreux und Glion (1883) sowie die Gütschbahn in Luzern (1884). Insgesamt entstehen bis 1914 nicht weniger als fünfzig Standseilbahnen, die vor allem dem Tourismus dienen. Dann macht der Erste Weltkrieg der Entwicklung ein Ende.

Bild: Zeit des Booms

Kann Wasser ein Treibstoff sein?

Fast ein Jahrhundert lang fährt die Marzilibahn mit einem denkbar simplen Antrieb. mit Wasser. An der Bergstation wird Wasser in einen Tank des abwärts fahrenden Wagens gefüllt, und der zieht mit diesem Gewicht den aufwärts fahrenden Wagen in die Höhe. Versorgt wird die Bahn aus dem Stadtbach, und der Wasserballastbetrieb hält sich in Bern länger als bei den meisten anderen Standseilbahnen im Land. Diese Ära geht zu Ende, als die Wasserversorgung immer prekärer und kostspieliger wird und eine höhere Leistung der Bahn unmöglich macht. 

Zwei historische Drahtseilbahn-Waggons fahren auf parallelen Schienen zwischen dichten Bäumen auf und ab.Kann Wasser ein Treibstoff sein?

Elektrisch und automatisch

1973/74 wird die Marzilibahn auf elektrischen Antrieb umgebaut und der Betrieb weitgehend automatisiert. Damals zeigt sich auch, wie sehr die kleine Bahn zu einem Stück Bern geworden ist – zu einem Symbol der guten alten Zeit. Die Marzilibahn «markiert den gemächlichen Puls der gemütlichen Stadt», heisst es in einem Dokumentarfilm, der kurz vor dem Umbau entsteht, in einer Zeit wachsender Kritik am Fortschritt. Und am letzten Betriebstag findet eine kleine «Trauerkundgebung» von Quartierbewohnern bei der Talstation statt.

Eine Person in Uniform steht am Eingang der Talstation, über ihr prangt prominent der Schriftzug «Drahtseilbahn».Elektrisch und automatisch

Im Zentrum der Macht

Diese Bahn ist für Bern mehr als nur ein Verkehrsmittel, sie gehört zu dieser Stadt und ihrem Selbstverständnis. Ihre Bedeutung verdankt sie auch der besonderen Nähe zum politischen Zentrum des Landes: Sie führt direkt auf die Bundesterrasse, wo Regierung, Parlament und Verwaltung der Eidgenossenschaft ihren Sitz haben. Als sie geplant wird, heisst das Bundeshaus noch «Bundespalais», und die Magistraten sorgen sich, dass die Bahn mit ihrem Betrieb und ihren Bauten die Weihe des Orts stören könnte. Zudem verordnen sie den «Herren R. Schnyder und H. Lutz» den Austritt aus dem Verwaltungsrat der Marzilibahn. Der eine ist Staatskassier, der andere Abteilungschef der Oberpostdirektion, und wie für alle Bundesbeamten gilt auch für die beiden die Verordnung, die ihnen jede «Beteiligung an einer industriellen Unternehmung» verbietet. Zugleich hat man in der Landesregierung nichts gegen das Privileg, das ihr die Bahn fortan einräumt: Bundesräte fahren gratis.

Schwarz-weisses Foto der Standseilbahn am Hang mit Gleisen und einer Kabine, die bergauf zum Bundesterrasse in Bern führt. Die Drahtseilbahn Marzili Umgeben von üppigem Grün, verfügt die Station über einen kleinen, ausgeschilderten Eingang.Im Zentrum der Macht

Ein Fall für Humoristen

Im Universum des volkstümlichen Humors gehört ohnehin beides zusammen, der Bund und diese Bahn. Schon in ihren ersten Tagen spricht die «Berner Volkszeitung» ironisch von «Blitzzügen» für die Beamten: So bescheiden die Strecke auch ist – die Marzilibahn habe doch den höheren Zweck, dass «sich gewisse Herren früher an die Arbeit machen können, als es bisher der Fall war». Und dann gibt es Anekdoten wie jene über den ausländischen Gast, der beim Einsteigen in der Talstation über das «Bähnchen» spottet, bevor er in der Bergstation aussteigt und unwissend auf das Bundeshaus zeigt: Was für ein imposanter Palast das sei. Antwort des Kondukteurs: Das Verwaltungsgebäude des «Bähnchens».

Ein historisches Foto zeigt das Bundeshaus in Bern, ein grosses mehrstöckiges Gebäude mit Bogenfenstern. Es steht auf einer Anhöhe, umgeben von Bäumen und Wegen. Die Drahtseilbahn führt vom angelegten Garten nach oben.Ein Fall für Humoristen